PROLOG

 

Manchmal vergleiche ich meinen Beruf mit dem Winter.
      Keiner mag es, wenn die Tage kurz sind und die Nächte schwarz. Wir denken an Stillstand und Tod. Dabei verkennen wir den Charakter dieser Jahreszeit. In Wahrheit bereitet sie weiteres Leben vor – je dicker der Mantel aus Schnee, desto reicher die künftige Ernte.
      Wie der Winter täusche ich Sie.
      Denn mein Wissen teile ich nicht öffentlich. Ich arbeite unter einem dicken Mantel der Geheimhaltung und lasse Menschen für mich spionieren. Ich mache sie zu Spitzeln, die ihre Genossen und Kameraden an mich verraten. Wenn es sein muss, auch ihre Liebsten, mit denen sie das Bett teilen.
      Klingt in Ihren Ohren unsympathisch, nicht wahr?
      Aber wenn wir schlimmeres Chaos vermeiden wollen, muss jemand den Job machen.
      Damit auch in Zukunft dem Winter ein Frühjahr folgt.
      Mein Amt sammelt Erkenntnisse über Möchtegern-Revoluzzer und Demokratieverächter. Setzt V-Leute auf Krawalltouristen an, auf Stalinjünger und Naziparteien. Auf Bomben bastelnde Diener des Gottesstaats. Auf rassistische Hooligans, die sich das Land als KZ erträumen.
      Ich bin gut in diesem Job. Mit zweiunddreißig Jahren die jüngste Regierungsrätin des Ministeriums. Weil ich unter dem Mantel hart bin. Weil meine Mutter mich zur Kämpferin erzogen und mich gelehrt hat, Freiheit zu leben, indem ich gegen den Strom schwimme, meinem eigenen Urteil vertraue und mein Anderssein als Auszeichnung trage.
      Und plötzlich stand alles infrage.
      Die RAF war zurückgekehrt. Als Rentnergang mit Panzerfaust.
      Während Rechtsextremisten die Machtergreifung planten.
      Rote Socken, brauner Mob – das Land geriet aus den Fugen.
      Die Tugenden des Winters waren gefragter denn je.
      Ich, Melia Khalid, war gefragt.


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